Pierrots Geheimnis

Kunstwerk der Woche

Ferdinand von Reznicek, Pierrot

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Ursprünglich zählte Pierrot zu den wichtigsten Handlungsträgern der Commedia dell’arte. Im Lauf der Zeit löste er sich jedoch aus dieser seit der Renaissance verbreiteten Form der Stegreifkomödie und wurde zur autarken Figur. Der vormals einfache Diener wandelte sich zum sinnbildlichen Vertreter des Volkes, den vor allem Künstler als Projektionsfläche für Aussagen unterschiedlicher Art nutzten. Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist das gleichermaßen rätselhafte wie geheimnisvolle Gemälde Pierrot von Ferdinand von Reznicek.

Face to Face

München leuchtete – keine Formulierung charakterisiert die Kunstszene der bayerischen Residenzstadt während der Belle Epoque so treffend wie das berühmte Diktum des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann. Eines ihrer wichtigsten Zentren war die Akademie der bildenden Künste. Dort studierte bis Mitte der 1890er Jahre auch Ferdinand von Reznicek. Dass er von seinem Lehrer Paul Höcker mehr als nur handwerkliche Perfektion übernommen hatte, zeigt das gegen Ende seiner Ausbildung entstandene Gemälde Pierrot.

Ferdinand von Reznicek – Pierrot, Detailansicht

Vor einer ockerfarbenen Wand steht ein ca. 14 bis 16jähriger Knabe, der durch das Anlegen eines langen weißen Gewandes mit weiten Ärmeln und pomponartigen Knöpfen in die Rolle des Pierrots geschlüpft ist. Reznicek zeigt das in Lebensgröße wiedergegebene Modell mit dem schön geschnittenen Gesicht und den selbstbewusst in die Hüfte gestemmten Armen in engem frontalem Ausschnitt. Mit seinem durchdringenden Blick entfaltet der Junge eine physische Präsenz, der sich der Betrachter kaum entziehen kann. Der zur Seite geneigte Kopf des Knaben gibt der Situation eine intime Note, welche durch den träumerisch-melancholischen Ausdruck seiner Augen zusätzlich verstärkt wird. Ist sich das Modell mit den vollen Lippen und rosigen Wangen seiner frappierenden sinnlichen Ausstrahlung bewusst? Kokettiert es gar damit? Oder folgt es nur der Anweisung des Malers, der für seine Pierrot-Darstellung eine Pose einfordert, welche im Bild der Idee der Maskerade entspricht?

In bester Tradition

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte Pierrot als Motiv der bildenden Kunst eine regelrechte Hausse. Eine wichtige Rolle spielte dabei der französische Schauspieler Baptiste Deburau, der die Figur des Pierrot meisterhaft verkörperte. Durch die 1855 auf der Pariser Weltausstellung mit einer Goldmedaille ausgezeichnete Bildserie Pierrot des Fotografen Félix Nadar wurde er europaweit bekannt.

Félix Nadar, Baptiste Deburau als Pierrot

Ausgehend von Frankreich übertrug sich die Begeisterung bald auch auf andere Länder. In Deutschland ist das 1888 entstandene Gemälde Kinderkarneval des Münchner Malerfürsten Friedrich August von Kaulbach das bekannteste Beispiel für eine Pierrot-Darstellung. Es stellt die fünf Kinder von Alfred und Hedwig Pringsheim dar, deren Salon bis in die 1920er Jahre hinein einen gesellschaftlichen Mittelpunkt Münchens bildete. Wie populär das Werk war, belegt die Tatsache, dass der bereits zitierte Schriftsteller Thomas Mann als junger Mann eine Reproduktion davon besaß. Die darauf abgebildete Katja Pringsheim sollte viele Jahre später seine Ehefrau werden.

Friedrich August von Kaulbach, Kinderkarneval

Auch im Oeuvre von Paul Höcker, der Friedrich August von Kaulbach als Professor an der Münchner Akademie 1891 nachgefolgt war, spielt das Motiv des Pierrot eine bedeutende Rolle. 1894 hatte er in der Münchner Secession mit einer Wanddekoration Aufsehen erregt, das vier Knaben in Pierrotkostümen bei einem feucht-fröhlichen Gelage zeigt. In den folgenden Jahren machte Höcker noch öfters mit motivisch vergleichbaren Werken wie Intermezzo auf sich aufmerksam.

Pierrots dunkles Geheimnis

Neben dem Reznicek’schen Gemälde belegen weitere Werke aus Höckers Schülerkreis, dass sich der Professor nicht nur privat für das Thema des Pierrots interessierte, sondern auch in seiner Klasse behandelte. Dabei wurden häufig auffallend attraktive Knaben im Pubertätsalter als Modelle verwendet, wodurch das seit geraumer Zeit kursierende Gerücht über Höckers Homosexualität zusätzliche Nahrung erhielt. Die große Beliebtheit des für seinen liberalen Führungsstil geschätzten Professors konnte indes nicht verhindern, dass er 1898 sein Lehramt niederlegen musste, nachdem er nicht länger bereit war, seine Veranlagung zu leugnen.

Paul Höcker, Intermezzo

Referenz und Aufbruch

Als Reznicek seinen Pierrot malte, war er am Ende seiner Ausbildung angelangt. Vermutlich handelt es sich um seine Abschlussarbeit an der Akademie, mit der er Höcker seine Referenz erweisen wollte. Rezniceks malerische Brillanz zeigt sich sowohl in der Reduktion der Palette auf wenige, fein aufeinander abgestimmte Farbtöne als auch in der Konzentration auf den ungemein lebendig wirkenden Knaben, der den Betrachter zu einem Zwiegespräch aufzufordern scheint. Welche Gedanken dem Pubertierenden durch den Kopf gehen, bleibt sein Geheimnis, doch trägt gerade diese Ambivalenz zum Reiz des Werkes bei.
Obwohl Reznicek in seiner weiteren künstlerischen Laufbahn nur noch selten Ölgemälde schuf, weist die Figur des Pierrots gleichsam auf seine bevorstehende Karriere voraus. Als Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift Simplicissimus spezialisierte er sich ab 1896 auf Darstellungen aus der Lebe- und Halbwelt, für die er als Kulisse meist Boudoirs, Séparées und Ballsäle wählte. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich hierbei seine Faschingsmotive, die ihn bis heute zu einem der populärsten Illustratoren um 1900 machen.

Ferdinand von Reznicek, Am Busen der Natur

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