Das Antlitz des Pablo Picasso


RIZE Magazin, Edition #19, S. 92-95

 

Pablo Picasso, fotografiert am 2. Juni 1954 in Vallauris, Frankreich, von Arnold Newman


Mit Les Desmoiselles d’Avignon revolutionierte er die Kunstgeschichte, mit Guernica schuf er eine erschütternde Metapher für die Schrecken des Krieges, und mit der Darstellung einer weißen Taube gab er dem Wunsch nach Frieden in der Welt zeitlosen bildlichen Ausdruck. Die Rede ist von Pablo Picasso, dem wohl bekanntesten Künstler des 20. Jahrhunderts. 2023 jährte sich der Tod des Ausnahmegenies zum 50. Mal…

Wer den Spuren des großen Spaniers in seinem 50. Todesjahr folgen wollte, hatte jetzt hierzu reichlich Gelegenheit. Ob in New York, Paris oder Tokio – Museen von Weltrang gedachten Picasso 2023 in Form von Einzelausstellungen, die Millionen von Besuchern anzogen und die ungebrochene Faszination seiner Werke bis in die Gegenwart widerspiegeln.

Dass der frühvollendete und sich sein Leben lang künstlerisch immer wieder neu erfindende Picasso über ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein verfügte, verwundert nicht. Es tritt uns in hunderten von Porträts entgegen, die teils unbekannte, teils weltberühmte Fotografen von ihm schufen. Aber auch der Meister selbst hielt sich von früher Jugend an bis ins hohe Alter immer wieder fest, mal direkt, mal in Form eines Alter Egos. Dabei ging es ihm meist weniger um ein realistisches Abbild des eigenen Ichs, als vielmehr um den Wunsch, den eigenen Empfindungen und Gedanken Ausdruck zu verleihen.

Ein solches Alter Ego-Selbstporträt ist die auf den 30. Oktober 1970 datierte Zeichnung Tête d’Homme. Sie entstammt einem Skizzenbuch, an dem Picasso wenige Tage zuvor anlässlich seines 89. Geburtstags begonnen hatte zu arbeiten. Es sollte ihn die kommenden sechs Monate intensiv beschäftigen und als pars pro toto sein Schaffen widerspiegeln. Später schenkte er es dem Sohn seines langjährigen Rechtsanwaltes, dessen Erben es 2005 in London versteigern ließen. Seitdem sind die ursprünglich darin enthaltenen Zeichnungen in alle Welt verteilt.

 


Pablo Picasso: Tête d’Homme, 1970
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Die hier vorgestellte Zeichnung Tête d’Homme ist motivisch und technisch mit einer Reihe weiterer Arbeiten aus dem Skizzenbuch vergleichbar. Es handelt sich um in unterschiedlichen Perspektiven nahsichtig angelegte männliche und weibliche Köpfe, die Picasso mit schwarzer und roter Wachskreide bis an die Bildränder gesetzt hat. Manche dieser Köpfe tragen porträthafte Züge, andere geben bestimmte Typen wieder. Zu diesen Typen zählen jene als Musketiere bekannten Soldaten, welche im 17. Jahrhundert als Hausgarde der französischen Könige dienten und denen der Schriftsteller Alexandre Dumas d. Ä. in seinem 1844 erschienenen Roman Die drei Musketiere ein literarisches Denkmal setzte. In Picassos spätem Schaffen nehmen die für ihre Virilität wie Sinnenfreudigkeit bekannten Musketiere breiten Raum ein und fungieren immer wieder als Referenzpunkt des eigenen Ichs.

Auch der dem Betrachter frontal entgegenblickende Tête d’Homme ist anhand seiner Perücke und markanten Barttracht als Musketier identifizierbar. Seine weit geöffneten Augen wirken halb melancholisch, halb herausfordernd, wach und unbeirrbar zugleich. Sie sind Ausdruck einer Geisteshaltung, die sich sowohl der eigenen Stärke als auch der eigenen Endlichkeit bewusst ist. Diese Endlichkeit mit den Mitteln der Kunst zu überwinden und dank ihr ein Stück Unsterblichkeit zu erlangen, war das Leit- und Lebensmotiv Picassos.