Die Bildwelten des Gilles Lorin

RIZE
Edition 2023, S. 46 - 54

Gilles Lorin, Portrait d’Arbre, Prussian Blue Study No. 1, 2016

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Bereits als Jugendlicher war Gilles Lorin vom Medium der Fotografie fasziniert und eignete sich deren Grundlagen an. Es bedurfte jedoch erst einer biographischen Zäsur, ehe er sich ihr Jahrzehnte später vollends zuwandte. Seitdem gilt der in Deutschland lebende Franzose weit über die Grenzen seiner beiden Heimatländer hinaus als einer der innovativsten Fotokünstler seiner Generation.

Gilles Lorin, Transcience, 2018

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Alexander Kunkel: Lieber Gilles, seit Kindertagen ist Dein Leben von Ortswechseln geprägt. Deine Jugend hast Du in Frankreich und den USA verbracht, das Studium der Archäologie und Kunstgeschichte hat Dich nach England geführt, später warst Du als Kunsthändler in Asien tätig. Bei einem so internationalen Curriculum möchte man kaum glauben, dass Du seit einigen Jahren in einem beschaulichen Ort am Rande des Schwarzwalds lebst. Wie kam es dazu und wie wirkt sich der Standort auf Deine Arbeit aus?

Gilles Lorin: Es hat tatsächlich etwas gedauert, bis ich mich in meiner jetzigen Wahlheimat eingelebt hatte. Allerdings bin ich schon früh mit unterschiedlichen Kulturkreisen in Berührung gekommen und diese Erfahrung hilft mir bis heute, mich auf neue Situationen einzustellen und an anderen Orten wohlzufühlen.

Der Umzug in den Schwarzwald kam übrigens nicht von ungefähr. Zuvor hatten meine Frau, unsere Zwillingstöchter und ich 15 Jahre in den USA gelebt. Für uns stand fest, dass wir sowohl unseren Kindern eine Erziehung in Europa bieten als auch zu unseren Wurzeln zurückzukehren wollten. Nachdem wir mehrere Optionen in Erwägung gezogen hatten, entschieden wir uns schließlich für das Markgräflerland, dem Wohnort meiner Schwiegereltern.
Im Nachhinein war unsere Entscheidung in doppelter Hinsicht richtig. Zum einen war ich wieder von Wäldern und Bergen umgeben, die mir seit Kindertagen vertraut sind und die ich in Florida stets vermisst habe. Zum anderen kann ich von unserem jetzigen Lebensmittelpunkt aus fast alle Länder Europas bequem erreichen und so andere Kulturen und Landschaften kennenlernen.

Bereits in Deinem Elternhaus hast Du Dich mit Fotografie auseinandergesetzt. Wann wurde Dir bewusst, dass Du Deine Passion zum Beruf machen möchtest, und welche Umstände haben Dich schließlich dazu veranlasst, Deiner inneren Stimme zu folgen?

Als Teenager habe ich mich mit verschiedenen künstlerischen Medien auseinandergesetzt, aber mein Hauptinteresse galt schon bald der Fotografie. Nach dem Studium der Archäologie und Kunstgeschichte begann ich im Kunstmarkt zu arbeiten und es blieb kaum noch Zeit selbst künstlerisch tätig zu sein. Der tägliche Umgang mit Kunstwerken war jedoch stets eine Quelle der Inspiration für mich.
Mit Anfang Dreißig bekam ich dann schwerwiegende gesundheitliche Probleme, die mein Leben von jetzt auf gleich veränderten und deren Überwindung mich sehr viel Zeit und Kraft gekostet hat. Diese Erfahrung war ein Wendepunkt in meinem Leben, an dem mir klar wurde, dass ich von nun an selbst als Künstler arbeiten wollte. Ich begann Aufnahmen mit der Kamera meines Großvaters zu machen, einer Yashica TLR. Die Negative entwickelte ich in einer Dunkelkammer, auch die Abzüge stellte ich selbst her. Schon bald bemerkte ich, dass mir diese Tätigkeit große innere Ruhe verschaffte und dabei half, zu mir zu finden. Darüber hinaus konnte ich beobachten, wie sich meine Vorstellung vom eigenen Leben und meiner Umwelt allmählich verändert hatte. Beides nahm ich sehr viel bewusster wahr als zuvor. Von nun an widmete ich fast jede freie Minute meiner neuen Passion, wenn auch zunächst im Verborgenen.
2014 lernte ich dann den Berliner Kunsthändler Jörg Maaß und seine Frau Sabine kennen. Sie waren begeistert von meinen Arbeiten und boten mir an, diese auf der AIPAD in New York auszustellen, eine der international führenden Messen für Fotokunst. Gleichwohl wir keine großen Erwartungen hatten, waren die Reaktionen seitens der Fachwelt mehr als ermutigend. Ein neues Kapitel in meinem Leben hatte begonnen.

Gilles Lorin, Still Life with Nautilus, Study No. 2, 2016

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Allein aufgrund Deiner Arbeitsweise unterscheidest Du Dich in einigen wesentlichen Punkten von den meisten Deiner Kollegen auf dem Gebiet der zeitgenössischen Fotokunst. So stellst Du beispielsweise jeden Abzug selbst von Hand her. Welche Motivation steht hinter dieser sehr aufwendigen Praxis und welche Herausforderungen gehen mit ihr einher?

Aufgrund meiner jahrelangen Erfahrungen entwickelte ich schnell eine individuelle Art, um ein Motiv zu erfassen. Sie bringt zugleich meine persönlichen Empfindungen zum Ausdruck. Die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und deren Geschichte sowie philosophische und spirituelle Aspekte schlagen sich ebenfalls in der Ästhetik meiner Bildsprache nieder. Was mir anfangs jedoch einiges Kopfzerbrechen bereitete, war die Frage, wie ich meine Bildideen technisch umsetzen sollte. Den ersten Abzügen mangelte es offensichtlich an physischer Präsenz. Sie erschienen mir seltsam flach. Ich vermisste schlichtweg das Gefühl, welches ich während des Fotografierens verspürt hatte, vor allem, wenn es sich um Sujets und Gegenstände handelte, die mir seit langem vertraut waren. Gerade aber die Aura eines Motivs wollte ich einfangen, seine Seele durch die Art der materiellen Umsetzung erfahrbar machen.
Um dieses Ziel zu erreichen, vertiefte ich mich in die Geschichte der Fotografie. Dabei stieß ich auf eine Vielzahl chemischer Prozesse, die ich selbst erprobt und teils weiterentwickelt habe. Jeder dieser Prozesse besitzt individuelle Eigenschaften, wodurch ein und dasselbe Motiv ganz unterschiedlich wirken kann. Ich beschloss, diesen Aspekt in den Mittelpunkt meiner Arbeit zu stellen. Je nachdem, um welches Motiv es sich handelt und welches Ergebnis mir vor Augen schwebt, entscheide ich mich für eine spezielle Technik. Es ist verblüffend, über welche Ausdrucksstärke das Medium Fotografie verfügt und wie unendlich reich seine Sprache ist.

Gilles Lorin, Phalaenopsis, 2012

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Zum unikalen Charakter Deiner Werke trägt nicht nur die Verwendung edelster Materialien sowie die Limitierung auf kleine bis kleinste Auflagen bei, sondern auch die speziellen Techniken, mit denen Du arbeitest bzw. die Du entwickelst. Ein Kritiker hat Dich in diesem Zusammenhang einmal als Alchemist bezeichnet. Was hat er damit wohl gemeint? Könntest Du uns ein oder zwei Beispiele nennen, anhand derer sich diese Behauptung veranschaulichen lässt?

Als man mich zum ersten Mal als Alchemist bezeichnet hat, war ich zunächst erstaunt, habe es aber als Kompliment aufgefasst. Laut Definition handelt es sich dabei um eine Person, die eine Substanz durch magische Prozesse in eine andere verwandelt oder neu erschafft. Insbesondere strebt der Alchemist nach dem Opus magnum, womit über Jahrhunderte hinweg die Verwandlung unedler Metalle in Gold gemeint war. Letztlich bündelt die Definition altertümliche Erklärungen für chemische Prozesse, bevor diese naturwissenschaftlich erforscht werden konnten. Mir jedoch gefällt der Vergleich mit einem Alchemisten und ich finde, dass darin eine romantische Note liegt. Zumindest verspüre auch ich während der Arbeit ab und an einen Hauch von Magie (lacht).
Aber um auf Deine Frage zurückzukommen: Prinzipiell bevorzuge ich Prozesse, die es mir ermöglichen, mit wertvollen Materialien zu arbeiten. Zu den wichtigsten zählen Platin und Gold, aber auch kostbare Papiere und Glas. Aus diesen Ingredienzen entsteht ein Werk mit fühl- bzw. spürbaren Eigenschaften, es vollzieht sich die Verwandlung eines immateriellen Bildes in ein materielles Objekt. Mit anderen Worten: auch ich versuche aus Substanzen ein Opus zu erschaffen. Dies ist für mich die ultimative Vollendung.

Kommen wir zu den Themen und Motiven Deiner Werke. Es ist auffällig, dass Du gerne in Zyklen arbeitest, wie etwa in Memento Mori oder DIVIN. Nach welchen inhaltlichen und ästhetischen Kriterien wählst Du Deine Sujets aus und wie darf man sich den Prozess der Umsetzung vorstellen?

Es gibt keine genauen Kriterien, nach denen ich den Inhalt meiner Themen oder die Art ihrer Darstellung festlege. Vielmehr beobachte ich die Welt um mich herum und komme so auf neue Ideen. Sobald mich eine davon fasziniert, lasse ich sie reifen und überlege mir, wie ich sie umsetzen könnte. Letztlich entstehen meine Werke aber durch fortwährendes Arbeiten und Experimentieren.
Allerdings gibt es ein immer wiederkehrendes Thema in meinem Schaffen, sozusagen mein roter Faden. Aus den vielen gesammelten Beobachtungen versuche ich ein Destillat zu gewinnen, und zwar dahingehend, dass ich die Erscheinungen unserer Umwelt auf die ihnen zugrundliegenden Ursachen hinterfrage; man könnte es auch die Suche nach dem metaphysischen Prinzip nennen. Es geht also darum, das Wesen bzw. die Seele der Dinge zu erfassen, sei es bei einem Menschen, einem Baum oder einem Gegenstand.
In meinen Arbeiten spüre ich also immer auch unterschiedlichen Seins-Ebenen des Lebens nach. Dabei ist es unerheblich, wie sie sich in der Welt um mich herum darstellen, ob sie etwa vollendet ausgeprägt, im Entstehen begriffen oder transzendentaler Natur sind. Der Versuch, die Welt auf diese Art zu erfassen und mit Begriffen zu beschreiben ist überaus vielschichtig und -deutig. Insbesondere kommt es darauf an, in welchen Zusammenhängen dies geschieht, etwa in religiösen oder wissenschaftlichen. So kann man die Frage aufwerfen, ob eine höhere Macht hinter der Erschaffung des Universums steht, dieses aus sich selbst heraus existiert, oder auf physikalische bzw. mathematische Gesetze zurückzuführen ist. Selbst Koryphäen auf dem Gebiet der Wissenschaft sind der Überzeugung, dass der Lauf des Universums von einer Art göttlichen Harmonie bestimmt wird. Letztlich sind jedoch alle Elemente miteinander verbunden und bilden einen in sich geschlossenen Kreis ohne Anfang und Ende.

 

Gilles Lorin, Microcosmos Marinus, 2010

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Abschließend drängt sich die Frage auf, an welchen Projekten Du gerade arbeitest bzw. welche Du demnächst in Angriff nehmen wirst. Möchtest Du uns hierzu einen Einblick geben?

Derzeit arbeite ich an zwei Serien, die mich bereits in den letzten beiden Jahren beschäftigt haben. Die eine hat den Titel Les Allegories d’Igor und setzt sich auf sehr persönliche Weise mit einer älteren Serie von mir auseinander, dem Memento Mori-Zyklus. Die zweite Serie heißt Histoire d’O und behandelt die kostbarste und unverzichtbarste Grundlage allen Lebens, das Wasser.

Lieber Gilles, wir danken Dir herzlich für dieses Gespräch!

von Dr. Alexander Kunkel