Der lange Schatten des Vincent van G.

Kunstwerk der Woche

Walter Bondy, Stillleben mit Kerzenleuchter

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Paris im Hochsommer 1908: es ist unerträglich heiß und die Stadt wie leergefegt. Wie viele andere Künstler fährt auch Walter Bondy aufs Land, um abseits seines stickigen Ateliers in der freien Natur zu malen. Auf was er bei seinem Studienaufenthalt in dem verschlafenen Örtchen Meulan-Hadricourt stößt, übertrifft indes seine kühnsten Träume. Kann es wirklich sein, dass die beiden verstaubten Leinwände auf dem Dachboden eines Gasthauses von einem der genialsten Maler der Moderne stammen?

Ein Kosmopolit in Paris

Als der in Prag und Wien aufgewachsene Unternehmersohn Walter Bondy nach Studienjahren in Berlin und München 1903 in Paris ankommt, beginnt die fruchtbarste Schaffensphase seines Lebens. Zu diesem Zeitpunkt genießt die französische Metropole den Ruf einer avantgardistischen Kunstkapitale, die wie ein Magnet junge Talente aus ganz Europa anzieht. Dies liegt nicht zuletzt an den vielfältigen Möglichkeiten zum gegenseitigen Austausch, etwa in den Salons von Sammlern und Mäzenen oder den Kursen privater Zeichen- und Malschulen. Am einfachsten ist es jedoch, sich in einem der zahlreichen Kaffeehäuser zu verabreden.

Das Café du Dôme in Paris, Anfang 20. Jh.
Photocredit: Wikimedia Commons

Dank Walter Bondy und seinen Freunden wird das am Montparnasse gelegene Café du Dôme bald zum beliebtesten Treffpunkt unter den deutschsprachigen Künstlern. Dort diskutiert man nicht selten kontrovers über die neuesten Ideen und Ereignisse in der Kunstszene. In einem Punkt aber sind sich alle einig: Paul Cézanne und Vincent van Gogh zählen zu den bedeutendsten Malern der jüngeren Vergangenheit. Will man als Künstler etwas gelten, so muss man sich mit ihren Werken auseinandersetzen. Wer würde nicht davon träumen, eines ihrer Bilder zu besitzen?

Wenn einer eine Reise tut…

Wie Cézanne und van Gogh malt auch Bondy leidenschaftlich gern plein air. Im Sommer 1908 erscheint ihm die glühende Hitze der Provence jedoch weniger verlockend als das angenehmere Klima im Umland von Paris. Während van Gogh gegen Ende seines Lebens im Juli 1890 in Auvers-sur-Oise Inspiration gefunden hat, entscheidet sich Bondy zusammen mit einigen seiner Freunde für das Örtchen Meulan-Hadricourt.

Walter Bondy beim Malen in Saint-Cloud, 1908

Zwei Jahrzehnte nach seinem Tod gilt der zu Lebzeiten verkannte und verspottete van Gogh als Pionier der Moderne. Seine Werke finden sich nicht nur in bedeutenden öffentlichen wie privaten Sammlungen, sondern sind auch auf dem Kunstmarkt heiß begehrt. Die Entdeckung eines Gemäldes des Jahrhundertgenies ist entsprechend unwahrscheinlich. Sollen Bondy und seine Freunde also dem vormals in Auvers-sur-Oise und nun in Meulan-Hadricourt ansässigen Kneipenwirt Arthur Ravoux Beachtung schenken, als er ihnen von einem holländischen Künstler erzählt, der vor knapp 20 Jahren sein Gast gewesen ist und ihm damals zwei Gemälde hinterlassen hat? Nun ja, man kann ja mal nach dem Namen fragen…

Vincent van Gogh, Das Rathaus von Auvers am 14. Juli 1890

Der Maler, der zum Jäger wurde

Als Ravoux tatsächlich den Namen Vincent van Gogh nennt, sind die Künstlerfreunde elektrisiert: Wo sind die beiden Bilder? Wann kann man sie sehen? Was sollen sie kosten? Bondy kennt jetzt kein Halten mehr. Jede Sekunde zählt im Wettlauf um die zwei vermeintlichen Meisterwerke, die ein Vermögen wert sein können! Geistesgegenwärtig drängt er den Wirt, sofort mit ihm auf den Dachboden des Gasthofes zu gehen, wo die verstaubten Leinwände seit seinem Umzug nach Meulan-Hadricourt lagern. Bondy traut seinen Augen kaum, als er auf dem ersten der beiden Gemälde, welches die Tochter des Wirtes darstellt, den zinnoberroten Schriftzug „Vincent“ liest – kein Zweifel, die Signatur ist von van Gogh. Auch das zweite Bild ist typisch für den Künstler und zeigt das Rathaus von Auvers-sur-Oise. Eine Sensation!

Vincent van Gogh, Adeline Ravoux, 1890

Wenige Augenblicke später sind sich der übereuphorisierte Bondy und der etwas überrumpelte Ravoux handelseinig geworden. Den glücklichen neuen Besitzer der beiden van Gogh-Gemälde hält nun nichts mehr in Meulan-Hadricourt, malen kann er auch noch in Paris. Dorthin bricht er umgehend mit dem nächsten Zug und seiner Beute auf.

Inspiriert durch Vincent

Als Bondy in seinem Atelier die beiden van Gogh-Gemälde auspackt, kann er sich von ihrem Anblick kaum trennen. Jeder Pinselstrich verströmt Energie, Vitalität, Genie. Kann es ein größeres Geschenk geben, als sich unter dem unmittelbaren Eindruck zweier Originalwerke des verehrten Meisters zu eigenem Schaffen inspirieren zu lassen?

Walter Bondy, Stillleben mit Kerzenleuchter – Detailansichten

Wie viel Bondy den Wegbereitern der Moderne verdankt, zeigt sein Stillleben mit Kerzenleuchter. Während die ausgewogene Spannung zwischen Tiefe und Fläche, das sorgsame Arrangement der in Aufsicht wiedergegebenen Bildgegenstände und das fein abgestufte Kolorit an Cézanne gemahnen, zeigt der plastisch modellierende Farbauftrag den Einfluss van Goghs. Aus der Symbiose dieser Elemente entsteht eine Malerei, die die Tradition der französischen peinture aufgreift und eigenständig fortschreibt.

Mittler der Kunst

Dass Bondy in Deutschland zu einem Mittler der modernen französischen Malerei vor dem Ersten Weltkrieg avanciert, ist nicht zuletzt seinen exzellenten Verbindungen zur Berliner Kunstszene geschuldet. Schon 1904 ist er in den Ausstellungen der Secession vertreten und auch sein Cousin Paul Cassirer, der zu den einflussreichsten Galeristen der Zeit zählt, macht sich für die Etablierung seiner Werke stark. 1911 zeigt er Bondys Gemälde zusammen mit denen seiner Café du Dôme-Freunde Rudolf Levy, Hans Purrmann und Jules Pascin. 1913 folgt eine Ausstellung mit Bondys Werken und denen Max Beckmanns.

Walter Bondy, Blumenstillleben, 1911 in der Galerie Cassirer ausgestellt

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges reißt Bondys Verbindung, der seit 1913 in Berlin lebt, nach Frankreich ab. Das Zerbrechen des Künstlerkreises aus dem Café du Dôme ist nicht nur ein persönlicher Schicksalsschlag für ihn, sondern auch ein herber Verlust für die Kunstgeschichte. Sein Gemälde Stillleben mit Kerzenleuchter aber bewahrt die Erinnerung an dieses für die Entwicklung der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts gleichermaßen wichtige wie fruchtbare Kapitel.