Inspiration Paris
Kunstwerk der Woche
Lyonel Feininger, Die Türme von Notre Dame in Paris, 1907
Es ist früher Morgen, als Lyonel Feininger im April 1907 sein Atelier verlässt, um sich auf Motivsuche zu begeben. Dies allein ist noch nichts Ungewöhnliches. Schon seit Monaten durchstreift er die Straßenzüge von Paris, um mit flottem Strich festzuhalten, was sich seinen nimmersatten Augen darbietet. Heute aber hat er neben Blei- und Farbstiften auch Pinsel und Ölfarben dabei. Keine Frage: Der Zeichner Feininger will endlich malen! Ob er ahnt, dass er ein neues Kapitel in der Kunst aufschlagen wird?
Hinter jedem starken Mann steht eine noch stärkere Frau
Entgegen allgemeiner Annahmen ist große Kunst selten die Leistung eines einzelnen. Dies trifft insbesondere für die Zeit um 1900 zu, in der viele Künstlerpaare sich gegenseitig inspirieren und so zu Wegbereitern der Moderne werden. Man denke nur an Wassily Kandinsky und Gabriele Münter oder Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin. Und natürlich an Lyonel Feininger und Julia Berg. Julia wer?
Lyonel Feininger mit seinen Söhnen, um 1912
Photocredit: Moeller Fine Art Projects | The Lyonel Feininger Project, New York – Berlin
Dass die Zeichnerin und Malerin Julia Berg im Vergleich zu anderen Künstlerinnen der Moderne nahezu vergessen ist, liegt vornehmlich an deren biografisch motivierter Bereitschaft, auf das Vorantreiben der eigenen Karriere zu verzichten. Was tut eine hingebungsvoll liebende Frau nicht alles, um den zu Selbstzweifeln neigenden Partner zu fördern und die drei gemeinsamen Söhne zu erziehen – immerhin werden auch diese allesamt Künstler werden.
Vom Atelier auf die Straße
Was 1905 mit einer leidenschaftlichen Romanze zwischen Berlin und Weimar beginnt, setzt sich von 1906 bis 1908 in Paris euphorisch fort. Dort teilen sich Julia und Lyonel, die jeweils noch mit anderen Partnern verheiratet sind, im Künstlerviertel Montparnasse am 242 Boulevard Raspail ein Atelier. Im April 1907 malt der bislang nur als Karikaturist bekannte Lyonel unter Julias Anleitung schließlich seine ersten Ölgemälde. Es sind intime Stillleben, die kaum ahnen lassen, dass es ihren Urheber bald auf die Straße drängen wird, um Paris mit Pinsel und Palette zu erkunden.
Ehemaliges Atelier der Feiningers in Paris
Von Julias und Lyonels Atelier dauert es zu Fuß kaum eine halbe Stunde bis zum Vorplatz des Hôtel de Ville am Rive Droite. Dort hält der tatenfrohe Künstler an einem sonnigen Morgen im April 1907 inne und schaut über die Seine hinweg zur Ile de la Cité, dem ältesten Viertel der Stadt. Sein Blick trifft auf das wohl bekannteste Bauwerk von Paris, die gotische Kathedrale Notre Dame. Der Architektur- und Kirchenliebhaber Feininger hat sein Motiv gefunden!
Historische Ansicht, Notre Dame in Paris, um 1900
Ein Blick über die Schulter
Als Bildträger wählt Lyonel eine Holztafel, auf die er zuerst die wesentlichen Elemente der guckkastenartigen Komposition mit Bleistift skizziert. Sodann greift er zu Farbtuben, wobei er sich für Braun, Ocker, Grün, Violett und Blau entscheidet. Für die Abstufung der Helligkeitswerte darf Weiß nicht fehlen. Schließlich nimmt Lyonel ein paar kurzborstige Pinsel zur Hand, mit denen sich die Farben sowohl stupfen als auch in Bahnen ziehen lassen.
Lyonel Feininger, Die Türme von Notre Dame in Paris – Detailansichten
Nach gründlichen Vorbereitungen steht dem Malen nun nichts mehr im Wege. Zunächst setzt Lyonel an die untere Bildkante einige der für Paris typischen Bouquinisten-Stände entlang der Seine. Darüber erhebt sich als bläulicher Streifen die Ufermauer der Ile de la Cité. Durch dieses Element trennt er den Vorder- vom Mittelgrund und schafft optisch die Basis für die sich am Quai aux Fleurs entlangziehende Häuserzeile. Überragt wird die pittoreske Szenerie von den mächtigen Türmen von Notre Dame, die sich gegen den gedämpften Morgenhimmel markant abheben. Et voilà – fertig ist ein Kleinod der Plein Air-Malerei!
Historische Ansicht, Quai aux Fleurs, um 1900
Photocredit: David Shapinsky, Wikimedia Commons
Auf zu neuen Ufern
In jenen Frühlingstagen des Jahres 1907 erkennt Lyonel, dass ihm das Malen nach der Natur optimale Voraussetzungen für einen künstlerischen Neuanfang bietet, der ihn unabhängig von seiner bisherigen Tätigkeit als Karikaturist machen kann. Er wird noch viele weitere Ölskizzen in den kommenden Monaten anfertigen und damit endgültig die Weichen für seine Karriere als freischaffender Künstler stellen.
Lyonel Feininger, Der weiße Mann, 1907
Photocredit: Lyonel Feininger, VEGAP, Madrid (Carmen Thyssen-Bornemisza Collection on deposit at Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid)
In diesem Kontext behaupten Die Türme von Notre Dame in Paris eine Sonderstellung und markieren zugleich einen entscheidenden Wendepunkt. Denn sie bestechen nicht nur durch eine raffinierte Komposition, ein lebendiges Kolorit sowie einen flotten Pinselduktus, sondern bereiten auch Lyonels erstes malerisches Hauptwerk vor, das wenige Monate später entstandene Gemälde Der weiße Mann (Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid). Mit ihm leitet der Künstler die Phase seiner Mummenschanzbilder ein, über die er zu kristallinen Architektur- und Meeresdarstellungen gelangen wird, die ihm den Rang eines Klassikers der Moderne verleihen werden.