Wenn’s der Echse zu wohl ist, geht sie aufs Eis
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
Ausgabe 15. März 2011, Seite 34
Heinrich Kley, Simplicissimus-Bilderbogen
Die schönste Geschichte davon, wie Heinrich Kley für die Kunstgeschichte gerettet wurde, geht so: 1939 bereitete Walt Disney sein Meisterwerk Fantasia vor. In acht Episoden sollte klassische Musik mit Zeichentrick kombiniert werden, mal abstrakt, mal symbolistisch, mal pathetisch, mal komisch. Fürs Letztere zeigte er seinen Animatoren Bilder des 1863 in Karlsruhe geborenen Kley: Elefanten und Krokodile, die mit Menschen und miteinander tanzen. Die im Simplicissimus veröffentlichten Zeichnungen hatte Disney einige Jahre zuvor auf einer Europareise entdeckt, nun wurden sie zur Anregung für eine köstliche Ballettszene, in der Krokodile, Nilpferde, Elefanten und Strauße zum Stundentanz aus Amilcare Ponchiellis Oper La Gioconda tanzen. Als Disney höchstpersönlich mehr als zwanzig Jahre später im Fernsehen auf Kleys Vorbild hinweist, ist der Künstler in seiner Heimat längst vergessen; er starb kurz vor Kriegsende 1945. Seine Witwe schreibt den Amerikaner an, und der kauft ihr einige Zeichnungen aus dem Nachlass ab, die nochmals vierzig Jahre später in einer Pariser und Münchner Ausstellung gezeigt werden, die sich den europäischen Einflüssen auf Walt Disneys Kunst widmet. Und plötzlich ist Kley wieder da, nun sogar mit einer Ausstellung in der Villa Stuck.
Die weniger schöne, aber wahre Geschichte geht so: Kley ist niemals vergessen worden, er war zur Fußnote geworden, aber mehr ist er auch zu Lebzeiten nicht gewesen. Unter seinen Zeitgenossen wurde er als Zeichner im Simplicissimus und anderen einflussreichen Blättern wie der Jugend oder der Berliner Illustrirten Zeitung geschätzt, aber als meist unpolitischer Künstler erreichte er nicht den Ruhm seiner Kollegen Karl Arnold oder Olaf Gulbransson, und auch wenn Kley als Maler aktiv war, kann von einem originellen, geschweige denn prägenden Stil, wie ihn die Karikaturistenkollegen Lyonel Feininger oder George Grosz entwickelten, keine Rede sein.
Heinrich Kley, In der Krupp’schen Gussstahlfabrik
Warum lohnt der Besuch in der Villa Stuck dennoch? Weil man dort einen Zeichner zu sehen bekommt, der virtuos gearbeitet hat. In der zweiten Hälfte der von Alexander Kunkel zusammengestellten Schau wird Kleys Werk mit Arbeiten von Max Klinger, Alfred Kubin und dem Hausheiligen Franz von Stuck konfrontiert – und dieser Gegenüberstellung hält Kley stand. Das Problem ist, dass er seine Karriere als Meister des Grotesken erst nach der Jahrhundertwende begann. 1909 siedelte Kley angesichts der frisch begonnenen Zusammenarbeit mit dem Simplicissimus aus Karlsruhe nach München über; zuvor hatte er sich redlich bemüht, in der Heimatstadt als Kunstmaler zu reüssieren, doch wie der erste Teil der Ausstellung zeigt, kam dabei nicht mehr als solides Handwerk heraus (wenn man von einer erstaunlichen vorbereitenden Skizze für ein von Krupp in Auftrag gegebenes Industriegemälde absieht, das Mondrians Bildverständnis vorwegzunehmen scheint). Die neue Aufgabe setzte in Kley sein eigentliches Talent frei, und nun kamen auch all die privaten Blätter zum Vorschein, die er nach späterer Auskunft nur zum eigenen Vergnügen gezeichnet hatte. In ihnen dokumentiert sich der freie Lauf einer furiosen Phantasie – und das im dazu passenden schwerelosen Stil.
Der Zeichner Kley ist, das zeigt die Ausstellung bravourös, ein leicht verspäteter Vertreter der Kunst des Fin-de-Siècle. In seinem Werk tummeln sich Faune und Kentauren wie bei Stuck, und er zelebriert den frivolen Sexus, wie es Klinger tat. Nur die ästhetische Parallelisierung mit Kubin bleibt abseits unmittelbarer Zeitgenossenschaft eher vage. Im Falle Stucks, vor allem aber Klingers, kann man dagegen Bilderfindungen sehen, die Kley nicht nur inspiriert haben, sondern die unmittelbare Vorbilder gewesen sein müssen, was angesichts der Popularität beider Werke zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auch nicht verwundern würde.
Heinrich Kley, Rechtsgalopp
Wie Kunkel dazu kommt, festzustellen, es gebe keine direkte Beeinflussung, ist rätselhaft, wo er doch selbst einen Kleyschen Kentaurenkuss neben ein zwanzig Jahre älteres Blatt von Stuck mit demselben Thema und vor allem demselben Bildaufbau hängt. Und im Katalog stellt Kunkel Kleys Zeichnung Dauerskat, in der die Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber der Katastrophenanfälligkeit der technischen Moderne drastisch verspottet wird, Klingers Radierung Alpdrücken von 1879 gegenüber. Der abgeschlagene Kopf auf Kleys Blatt, ja selbst die unbeeindruckt in der Aktion fortfahrende Haltung des enthaupteten Körpers sind unmittelbar von Klinger übernommen.
Das spricht nicht gegen Kleys zeichnerische Virtuosität, im Gegenteil. Klinger aus dem Symbolistischen ins Groteske zu überführen, muss man erst einmal schaffen, ohne selbst lächerlich zu wirken. Und ganz eigenständig wird Kley ausgerechnet auf einem Feld, das seit Goya übers gesamte neunzehnte Jahrhundert hinweg vorbereitet wurde: bei den anthropomorphen Tieren. Wilhelm Busch, als dessen gelehriger Schüler sich Kley in seiner Bewegungskunst erweist, hatte es mit Hans Huckebein oder dem kranken Frosch vorgemacht, doch Kley entwickelte daraus eine Form, die in ihrer Konsequenz neu war: Seine Tiere handeln wie Menschen, sind aber dabei gerade in ihrer Kreatürlichkeit belassen. Keine Kleidung also (außer bei satirischen Darstellungen, die etwas ganz anderes sind als Grotesken) und vor allem keine veränderten Proportionen hin zur Annäherung ans Menschliche. Wenn Kley in seiner Eiswalzer-Suite von 1912 ein Krokodil mit einer nackten Dame Schlittschuh laufen lässt, ist das Reptil anatomisch ebenso genau getroffen wie das Aktmodell. Und das gilt für die meisten der Tierzeichnungen, die Kley bekannt gemacht haben.
Heinrich Kley, Eiswalzer
Dazu kommt die schiere Linienfreude, die sein Werk bis 1914 auszeichnet – erst danach verbitterten der Krieg und die schwere Erkrankung seiner ersten Frau den Künstler und auch dessen Kunst. Kein Wunder, dass Walt Disney im tänzerischen Flug der Feder übers Blatt ein Bewegungsideal für seine Zeichner fand. Und ein Vorbild dafür, wie man karikatureske Elemente in der Tierdarstellung vermeidet und damit die Glaubwürdigkeit der Darstellung erhöht. Gerade weil dem Krokodil auf dem Eis so sichtbar wohl ist, wirkt die Zeichnung brillant.
Diese Blätter zu sehen ist pures Glück, und dass die Ausstellung die im vergangenen Jahr publizierte, hervorragend recherchierte Dissertation von Kunkel über Kley (VDG, Weimar) geschickt durch neue Funde zu ergänzen weiß, macht den Besuch zum Gewinn. Man muss nur den ersten Teil und die Legende um den Künstler vergessen, dann bekommt man einen graphischen Humoristen zu Gesicht, der seinen Platz nicht in der Kunstgeschichte sucht, sondern in unseren Regalen.
ANDREAS PLATTHAUS
Heinrich Kley – Meister der Zeichenfeder im Kontext seiner Zeit. Villa Stuck, München; bis 1. Mai. Danach vom 22. Mai bis zum 21. August im Deutschen Museum für Karikatur und Zeichenkunst, Hannover. Der hervorragend gedruckte Katalog, der aber nicht alle Arbeiten abbildet, kostet 19,80 Euro.