Jugend und Simplicissimus: Chance zur Neu- und Wiederentdeckung
AUS DEM ANTIQUARIAT
Ausgabe Nr. 2/2015, Seite 80ff
Olaf Gulbransson, Moderne Folter
Alexander Kunkel (geb. 1979) ist promovierter Kunsthistoriker und hat sich 2012 als Kunsthändler in München selbständig gemacht. Noch bis 16. Mai 2015 zeigt Kunkel Fine Art (www.kunkelfineart.de) in der Prinzregentenstraße 71 die Ausstellung ›Zeichner der Jugend und des Simplicissimus. Glanz und Elend um 1900 im Spiegel der Karikatur‹.
In den 1970er und 80er Jahren spielten ›München‹ und seine blühende Kunst- und Literaturszene vor dem Ersten Weltkrieg auch in dieser Zeitschrift eine nicht unerhebliche Rolle. Um diese Themen ist es aber recht still geworden oder täuscht der Eindruck?
ALEXANDER KUNKEL: Diese Feststellung trifft sicherlich vor allem in Bezug auf die Wahrnehmung der Kunstszene Münchens vor dem Ersten Weltkrieg zu, sofern sie nicht der Künstlergruppe Blauer Reiter gilt. Deren Werke haben in der ständigen Ausstellung der Städtischen Galerie im Lenbachhaus einen festen Platz und zählen seit jeher zu den Publikumsmagneten, die Scharen auswärtiger Besucher anziehen und ein nicht unerhebliches Merchandising-Potential haben. Auch dem Werk des Malerfürsten Franz von Stuck wird dank dem in seiner imposanten Villa untergebrachten Museum einige Aufmerksamkeit geschenkt. Betrachtet man aber die Vielseitigkeit der Kunstszene Münchens um 1900, die internationale Stellung seiner Akademie, die Bedeutung der Secession für das gesamtdeutsche Kunstgeschehen und nicht zuletzt die beachtliche Anzahl hoch talentierter Zeichner und Maler, die für die weithin bekannten Zeitschriften Jugend und Simplicissimus gearbeitet haben, so verwundert es, wie vergleichsweise stiefmütterlich diese Themengebiete derzeit von Seiten der lokalen Museen sowohl in Dauer- als auch Wechselausstellungen behandelt werden. Auch sind renommierte Kunsthändler wie Alfred Gunzenhauser und Bernd Dürr, die diese Positionen stets gepflegt haben, aus Altersgründen weitgehend weggefallen. Der Antiquar Hans Hammerstein, dem diese Gebiete ebenfalls wichtig waren, ist 2011 gestorben. In der gegenwärtigen Lage liegt für eine nachrückende Händler- wie Sammlergeneration freilich auch eine Chance zur Neu- und Wiederentdeckung.
Hans Christiansen, Die Woge
Welche Aspekte reizen Sie besonders an der Jugend und am Simplicissimus? Die Karikaturen? Künstlerische Aspekte? Das Medium Zeitschrift?
Jugend und Simplicissimus geben zusammen genommen einen überaus facettenreichen Einblick in das kulturelle, gesellschaftliche und politische Leben im deutschsprachigen Raum um 1900. Während die in der Jugend veröffentlichten Beiträge in formaler Hinsicht stilbildend wirkten – man denke an die Herkunft des Begriffs Jugendstil –, bemühte sich der Simplicissimus mittels der Gattung Karikatur, die Missstände der Zeit aufzudecken. Eine Gemeinsamkeit beider Zeitschriften war der Anspruch auf ein hohes künstlerisches Niveau. Dies hebt sie von anderen auflagenstarken illustrierten Blättern der Epoche ab und macht sie im Gegensatz zu diesen über ihren historischen Quellenwert hinaus interessant. Auch heute noch sind die Bandbreite an künstlerischen Ausdrucksmitteln sowie die Aktualität vieler behandelter Fragen und Probleme erstaunlich. Freilich offenbart sich der volle ästhetische Reiz der in Jugend und Simplicissimus veröffentlichten Werke erst bei Betrachtung der Originale.
Wie gestalten sich für Sie als Kunsthändler mit Standort München die Beziehungen zum Antiquariatsbuchhandel. Gibt es Berührungspunkte?
Meine Begeisterung für das Thema Jugend und Simplicissimus ist durch einen Zufallsbesuch im Schwabinger Antiquariat von Hans Hammerstein während meiner Schulzeit geweckt worden. Damals stieß ich auf ein im Albert Langen Verlag erschienenes Album mit Federzeichnungen des Künstlers Heinrich Kley, über dessen Leben und Werk ich ein Jahrzehnt später meine Dissertation verfasst habe. Die Dichte an Antiquariaten hat seitdem – nicht zuletzt aufgrund des Aufkommens des ZVAB und anderer Verkaufsplattformen im Netz – stark abgenommen und man wird eine teilweise Anonymisierung des Metiers hierdurch nicht verleugnen können. Von einigen der einschlägigen Antiquariate, in denen das Wissen um diesen Teil der Geschichte Münchens weiterhin eine feste Heimat hat, konnte ich im Lauf der Jahre schöne Originalzeichnungen von Künstlern wie Franz von Bayros, Th. Th. Heine, Olaf Gulbransson, Alfred Kubin oder Eduard Thöny erwerben; sie bilden über die derzeitige Ausstellung hinaus einen meiner Handelsschwerpunkte.
Thomas Theodor Heine, Die Simplicissimus-Dogge
Sie sprechen die Anonymisierung der Kunst- und Antiquariatsbranche im digitalen Zeitalter an. Welche Rolle spielt vor diesem Hintergrund die gedruckte Fachzeitschrift?
Die quantitativ kaum zu überblickende und weitgehend ungefilterte Menge an Daten, mit der wir durch die digitalen Medien täglich ›versorgt‹ werden oder auf die wir bei Recherchen im Internet stoßen, führt meiner Erfahrung nach teilweise zu Verdruss. Die Fachzeitschrift garantiert gewisse Qualitätsstandards und hat zudem den Vorteil, auch nach langer Zeit noch physisch greifbar zu sein. Wer weiß, vielleicht wird in einigen Jahren ein Leser von Aus dem Antiquariat auf dieses Interview aufmerksam und dadurch angeregt, sich mit den Zeitschriften Jugend und Simplicissimus auseinanderzusetzen? Stünde es allein auf einer Website, bei der man nie weiß, wie lange sie gepflegt wird beziehungsweise überhaupt besteht, wären die Chancen ungemein schlechter.
Könnten Sie sich eine Teilnahme als Aussteller an einer Antiquariatsmesse vorstellen?
Als Ergänzung zu meiner Teilnahme an klassischen Kunstmessen könnte ich mir – zumindest versuchsweise – auch die Teilnahme an einer Antiquariatsmesse durchaus vorstellen, wobei diese aufgrund meiner händlerischen Ausrichtung sicherlich im süddeutschen Raum beheimatet wäre.
Die Fragen stellte Björn Biester.