Wo sind die Exoten?
Kunstwerk der Woche
Otto Dill, Schreitender Löwe
Es gibt Künstler, die für die Darstellung eines bestimmten Themas bekannt werden und einen entsprechenden Beinamen erhalten. Ein Beispiel hierfür ist Otto Dill, auch Löwen-Dill genannt. Seine virtuos gezeichnete Studie Schreitender Löwe entstand vor dem lebenden Modell im Münchner Tierpark Hellabrunn, der zu den schönsten zoologischen Gärten Deutschlands zählte.
Wo sind die Exoten?
Der Besuch einer Wandermenagerie gehörte zu den beliebtesten Freizeitvergnügen des späten 19. Jahrhunderts. Für Otto Dill, der in der ländlichen Abgeschiedenheit einer pfälzischen Kleinstadt aufwuchs, sollte die Begegnung mit den exotischen Tieren Afrikas zum frühkindlichen Erweckungserlebnis werden. Als er Jahre später nach München ging, um an der Akademie der bildenden Künste zu studieren, stand die Wahl des Lehrers schnell fest. Von 1908 bis 1914 besuchte Dill die Klasse Heinrich von Zügels, einem der führenden Tiermaler der Zeit. Was dessen Unterricht besonders machte, war die Arbeit vor dem lebenden Modell. Einziger Wermutstropfen: Zügel war auf heimische Tierarten spezialisiert, doch mit Schafen, Eseln und Kühen konnte Dill nur wenig anfangen.
Heinrich von Zügel mit Schülern
Ein Zoo für tierliebende Künstler
Im Jahr 1900 zählte München rund 500.000 Einwohner und galt als Deutschlands wichtigste Kunststadt. Dass es in der bayerischen Metropole bis dahin noch keinen zoologischen Garten gab, sorgte bereits seit längerem für allgemeinen Verdruss. Vor allem Zeichner, Maler und Bildhauer verlangten nach der Möglichkeit, exotische Tiere aus nächster Nähe studieren zu können, zumal deren Darstellung ganz oben in der Gunst des Publikums stand. Als im Sommer 1911 der Tierpark Hellabrunn endlich seine Pforten öffnete, entwickelte er sich in Windeseile zu einem Publikumsmagneten. Doch nicht nur die dargebotene Artenvielfalt machte den Zoo zu einem beliebten Ausflugsziel, sondern auch seine kunstvolle landschaftliche und architektonische Gestaltung.
Lageplan des Tierpark Hellabrunn
Artgerecht auf höchstem Niveau
Beim Bau des Tierparks Hellabrunn entschloss man sich für die Anlage eines Naturgartens anstelle eines Kulturgartens. Hierdurch unterschied er sich von den meisten anderen zoologischen Gärten in Deutschland. Dabei wurde in besonderem Maße an die Bedürfnisse der Künstler gedacht, wie ein Memorandum Ludwig Hecks zeigt, dem in die Planung miteinbezogenen Direktor des Berliner Zoos: „Auf diesem neuartigen Wege möchte ich es sogar für möglich halten, Löwen und Tiger frei im Sonnenschein dem Besucher und namentlich dem studierenden Künstler darzubieten.“
Tierpark Hellabrunn, Raubtierhaus und Löwenterrasse
Für die Umsetzung dieser Aufgabe gewann man den renommierten Architekten Emanuel von Seidl. Das von ihm gestaltete Raubtierhaus wurde neben dem Elefantenhaus das extravaganteste Gebäude in Hellabrunn. Das Besondere der barock anmutenden Anlage, das Löwen, Tiger und Leoparden beherbergte, war die Löwenterrasse. Sie bestand aus drei Freigehegen, von denen aus sich die Tiere ins Innere des Raubtierhauses zurückziehen konnten. Während sich Tiger und Leoparden in zwei umgitterten Flankenbauten die Sonne auf den Pelz scheinen ließen, entwarf Seidl für die Löwen eine Art Tempelruine mit korinthischen Säulen. Kann man sich eine malerischere Kulisse für den König der Tiere und seinen Hofstaat an der Isar vorstellen?
Impressionen aus dem Freilichtatelier
Dass vor allem Otto Dill die Möglichkeit nutzte, die ihn seit Kindertagen faszinierenden Raubkatzen ausgiebig zu studieren, liegt auf der Hand. Bei einem seiner Besuche in Hellabrunn dürfte die mit virtuosem Feder- und Pinselstrich ausgeführte Studie Schreitender Löwe entstanden sein. Gelassenen Schrittes und mit leicht abgewandtem Kopf bewegt sich das majestätische Tier frontal auf den Betrachter zu, scheinbar ohne diesen zu bemerken. Durch die von der Blattkannte abgeschnittene Tatze sowie das Fehlen jeglicher Umgebung steigert der Künstler die physische Präsenz seines Modells zusätzlich. Auf diese Weise wirkt die Verhaltensweise des Löwen natürlich und macht vergessen, dass er in Gefangenschaft lebt. Der Künstler lässt ihm damit seine Würde und entbindet zugleich den Betrachter von etwaigen Schuld-gefühlen gegenüber der Kreatur. Dass der als Löwen-Dill bekannte Zeichner und Maler mit gleicher Bravour auch andere Raubkatzen dar-zustellen wusste, belegen seine ebenfalls in Hellabrunn mit impressionistischer Leichtigkeit zu Papier gebrachten Tiger auf der Lauer.
Otto Dill, Tiger auf der Lauer