125 Jahre SIMPLICISSIMUS oder das Bestiarium Humanum der Kristin Kolb

Kunstwerk der Woche

In seinem vorangegangenen Kunstwerk der Woche hat KUNKEL FINE ART an die Gründung des SIMPLICISSIMUS vor 125 Jahren erinnert. Der Erfolg des Münchner Satiremagazins beruhte vor allem auf den Bildbeiträgen seiner wichtigsten Mitarbeiter, die der Albert Langen-Verlag auch in Form repräsentativer Alben veröffentlichte. Sieben dieser bibliophilen Raritäten haben die Berliner Künstlerin Kristin Kolb zu einer surrealistisch verfremdeten Serie inspiriert, in der sie der Frage nachgeht, wieviel Menschliches im Tier bzw. wieviel Tierisches im Menschen steckt.

Olaf Gulbransson, Porträt Friedrich August von Kaulbach, um 1905

Berühmte Zeitgenossen

Zu den Hauptmitarbeitern des 1896 von Albert Langen gegründeten SIMPLICISSIMUS zählte ab 1903 Olaf Gulbransson, der durch die Serie Berühmte Zeitgenossen schnell bekannt wurde. Eindrucksvoll belegt die Porträtreihe seine Treffsicherheit in der Beobachtung und Wiedergabe menschlicher Gestik und Mimik anhand prominenter Persönlichkeiten aus dem Kunst-, Literatur- und Musikleben. Die mit geschmeidig-weichem Strich ausgeführten Karikaturen geben auf ironische Weise Aufschluss über den Charakter und das Selbstverständnis der Dargestellten, die sich nicht selten geschmeichelt fühlten, von Gulbransson gezeichnet worden zu sein.

Kristin Kolb, Berühmte Zeitgenossen

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Dass der für seine eskimohafte Erscheinung bekannte Norweger Olaf Gulbransson auch über sich selbst lachen konnte, bestätigt der Einband des Albums Berühmte Zeitgenossen, auf dem er sich als nasebohrendes Riesenbaby wiedergibt. Über ein Jahrhundert später stellt Kristin Kolb dem Wunderkind der Zeichenkunst drei tierische Begleiter in Gestalt eines Orang Utans, Uhus sowie Käuzchens an die Seite. Milde lächelnd, aufgeregt krächzend bzw. vergnügt desinteressiert: die Reaktionen der Tiere auf das sonderbare Wesen in ihrer Mitte und sein Verhalten sind so unterschiedlich wie die Betrachter des Werkes. Ob sie merken, dass ihnen die Künstlerin den Spiegel der Selbstreflexion vorhält?

Glanz und Gloria

Zu den SIMPLICISSIMUS-Mitarbeitern der ersten Stunde gehörte der Südtiroler Eduard Thöny. Seine Domäne war die Gesellschaftskarikatur, zu der er sich von sämtlichen Ständen und Klassen des wilhelminischen Kaiserreichs anregen ließ, insbesondere dem Militär. Gesellschaftlicher Dünkel, intellektuelle Beschränktheit und moralische Verwahrlosung – alles fand sich hier in Reinkultur und lieferte seinem Zeichenstift dankbare Motive. Wie sehr sich auch die Leser des SIMPLICISSIMUS an Thönys Beobachtungen erfreuten, belegt die Tatsache, dass der Albert Langen-Verlag zwischen 1899 und 1910 fünf Alben von ihm veröffentlichte.

Eduard Thöny, Plitzenwitz, 1898

Eines der Alben trägt den Titel MILITAER und zeigt auf dem Einband ein Offiziersporträt. Aufgrund seiner Uniform lässt sich der Dargestellte als Ulan identifizieren, deren Regimenter im Kaiserreich hoch angesehen waren und als Sammelbecken des preußischen Adels galten. Der Ruhm der Ulanen, die sich als Lanzenreiter nach polnischem Vorbild während der napoleonischen Kriege bewährt hatten und im Verlauf des 19. Jahrhunderts von vielen Armeen aufgestellt wurden, war jedoch bereits um 1900 am Verblassen. Dass diese Form der Kavallerie ein überholtes Relikt aus vergangenen Zeiten war, stellte sich spätestens im Ersten Weltkrieg heraus, als die Ulanen aufgrund ihrer hoffnungslosen Unterlegenheit gegenüber der modernen Technik kaum zum Einsatz kamen.

Kristin Kolb, MILITAER

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Kristin Kolb greift Eduard Thönys Zeichnung auf, indem sie dem arrogant-dümmlich dreinblickenden Offizier eine Meute treu-doof glotzender Hunde beifügt, wodurch dessen groteske Erscheinung zusätzlich unterstrichen wird. Statt Tschapka (Eckenmütze), Orden und Epauletten tragen die Vierbeiner protzige Halsbänder, die Schriftzüge bzw. Initialen bekannter Modemarken aufweisen. Ob militärischer Gehorsam oder Hörigkeit gegenüber dem Diktat der Mode – das Individuum verschwindet jeweils hinter seinem Accessoire. Dieses gibt jedoch kaum Halt, sondern zeugt eher von der Unsicherheit des Trägers. Welche neuen Kleider hatte gleich noch mal der Kaiser im Märchen an?

Balanceakt

Im Gegensatz zu Olaf Gulbransson und Eduard Thöny verzichtete der Wiener Ferdinand von Reznicek in seinen Beiträgen für den SIMPLICISSIMUS weitgehend auf die Mittel der Karikatur. Seine Motive sind meist in der Welt des Geburts- oder Geldadels, aber auch in der Lebe- und Halbwelt angesiedelt. Boudoirs, Séparées und Ballsäle bilden die Kulisse für allerlei amüsante Szenen, in denen es häufig um die Aufdeckung doppelter Moral oder die erotische Annäherung zwischen Mann und Frau geht. Mit sieben im Albert Langen-Verlag publizierten Alben gehörte Reznicek mit Abstand zu den bei den Lesern des SIMPLICISSIMUS beliebtesten Mitarbeitern.

Ferdinand von Reznicek, Colombine, 1901

Dass der Tanz um 1900 eine der populärsten Vergnügungsarten war, wird nicht zuletzt durch das gleichnamige Album Ferdinand von Rezniceks belegt. Auf dem Einband balanciert eine junge Frau in tief dekolletiertem Kleid mit ornamental verspieltem Schmetterlingsmuster auf der rechten Fußspitze. Scheinbar mühelos hält sie das Gleichgewicht, wobei sie ihre Arme und das linke Bein grazil von sich streckt und zugleich kokett lächelt. Wer könnte sich ihrer Anziehungskraft entziehen?

Kristin Kolb, Der Tanz

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Kristin Kolb nimmt Ferdinand von Rezniceks Tänzerin zum Anlass, um auf dem Einband des Albums eine bunt bewegte Szene zu entfalten. Schwebte die elegante Artistin zuvor im luftleeren Raum, so vollführt sie nun einen Balanceakt auf dem Schädel eines Zirkus-Elefanten. Dieser hat seinen Kopf angehoben und macht auf weitere tierisch-menschliche Spektakel aufmerksam. Während in der linken Bildhälfte drei junge Dickhäuter miteinander balgen, um mit spielerischem Ernst die Rangordnung untereinander festzulegen, lässt sich bei den beiden ausgewachsenen Exemplaren nicht eindeutig bestimmen, ob es sich um miteinander kämpfende Bullen oder um die Balz von Kuh und Bullen handelt. So oder so ist das Wiegen der Schritte ein Kraftakt, dessen physische Anstrengung allein durch den virtuosen Strich der Künstlerin kaschiert wird. Ob sich der Betrachter hierbei an die unfreiwillig komische Figur erinnert fühlen mag, die miteinander tanzende Menschen oft abgeben, bleibt ihm überlassen.

Kristin Kolb in ihrem Berliner Atelier, 2019