Von Stolz und Stärke

Kunstwerk der Woche

Jean-Baptiste Clésinger, Römischer Stier (Taureau romain)

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Die Darstellung von Tieren ist zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen ein zentrales Thema der Kunst gewesen. Auf dem Gebiet der Plastik erfuhr das Genre im 19. Jahrhundert seine bis dahin größte Blüte, wobei Frankreich eine Vorreiterrolle einnahm. Jean-Baptiste Clésingers Römischer Stier ist hierfür ein charakteristisches Beispiel.

Achtungserfolg auf dem Pariser Salon

Das Oeuvre des französischen Bildhauers Jean-Baptiste Clésinger umfasst hauptsächlich Aktdarstellungen, mythologische Figuren sowie idealisierte Frauenbüsten. Umso erstaunlicher ist, dass die 1858 in Rom vollendete Plastik Römischer Stier bis heute sein bekanntestes Werk ist. Als der Künstler die eigenhändig in Lebensgröße ausgeführte Marmorstatue 1859 auf dem Pariser Salon zeigt, erntet er allgemeine Bewunderung und wird selbst von Kritikern gelobt, die ihm sonst eher reserviert gegen-überstehen. Wenig später wird der Römische Stier in unterschiedlichen Größen von den führenden französischen Bronzegießereien vervielfältigt und macht Clésingers Namen weit über Paris hinaus bekannt.

Antoine-Louis Barye, Sitzender Löwe

Mit dem Römischen Stier tritt Clésinger in direkte Konkurrenz zu Antoine-Louis Barye, dem prominentesten französischen Tierbildhauer des 19. Jahrhunderts. Umso mehr schmeichelt es ihm, als die Presse seine Skulptur mit Baryes Schlüsselwerk Sitzender Löwe vergleicht, das sich heute vor dem Musée du Louvre befindet. Als Kaiser Napoleon III den Römischen Stier für das Musée du Luxembourg erwirbt, kommt dies einem Ritterschlag für Clésinger gleich.

Inspiration aus Rom

Über Clésingers Beweggründe für die Wahl eines eher außerhalb seines Themenkreises liegenden Sujets ist nichts Näheres bekannt. Vermutet wird, dass er sich in Rom von der Sala degli animali in den Vatikanischen Museen anregen ließ. Der im 18. Jahrhundert eingerichtete Saal vereint bis heute einige der schönsten und berühmtesten Tierskulpturen der Antike, die in ihrer Gesamtheit wie ein zoologischer Garten aus Stein wirken.

Sala degli animali, Vatikanische Museen

Auch Clésingers neoklassizistisch aufgefasster Römischer Stier mutet antikisch an. Die Hauptansicht der Plastik ist durch die längliche Plinthe vorgegeben, auf der das mit mächtigen Hörnern, muskulösem Körper sowie kräftigem Schwanz ausgestattete Tier von rechts nach links dahinschreitet. Diese Haltung ergibt bei frontaler Betrachtung eine überaus lebendige, von an- und abschwellenden Rundungen geprägte Silhouette. Beim Umschreiten des auf Allansichtigkeit angelegten Werkes wird das subtile Wechselspiel von statischen und bewegten Elementen erkennbar. Dass der Römische Stier auch als Bronzestatuette eine monumentale Wirkung entfaltet, liegt hauptsächlich an seiner majestätischen Gravität und stoischen Gelassenheit. Unweigerlich flößen sie dem Betrachter Ehrfurcht ein und lassen ihn vergessen, dass das mit einem Brandstempel auf der Hüfte versehene Tier domestiziert ist.

Das Tier als Spiegel des Menschen

Clésingers Zeitgenossen dürften in dem Römischen Stier mehr als nur das naturgetreue Abbild eines dem Menschen seit jeher vertrauten Tieres gesehen haben. Vermutlich haben sie die Skulptur auch als Zitat mythologischer Geschichten wie den Raub der Europa verstanden, zumal der Künstler für derlei historische Sujets bekannt war. Der wesentliche Grund für den Erfolg des Römischen Stieres, der sich nicht nur in euphorischen Besprechungen, sondern auch in der Vervielfältigung als Bronze in unterschiedlichen Größen niedergeschlagen hat, dürfte aber in den von ihm verkörperten Eigenschaften wie Wille, Stolz und Stärke liegen. Damals wie heute machen sie die Skulptur zu einer Projektionsfläche menschlichen Wunschdenkens.