Jugendstil in Ekstase
Kunstwerk der Woche
Hans Christiansen, Die Woge
Um 1900 durchdringt der Jugendstil alle Bereiche der Kunst. Seinen Namen verdankt er der 1896 gegründeten Zeitschrift JUGEND – Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben, deren Bildbeiträge vom Aufbruchswillen einer jungen Künstlergeneration zeugen. Zu ihr zählte auch Hans Christiansen. Seine emblematische Zeichnung Die Woge zierte einst das Titelblatt der JUGEND und zog damit die Blicke der Zeitgenossen auf sich.
Hotspot Paris
Paris um 1900: Keine andere Metropole genießt einen vergleichbaren Ruf auf dem Gebiet der Kunst wie die Stadt an der Seine, die Jahr für Jahr tausende aufstrebende Talente aus ganz Europa anzieht. Unter ihnen ist auch Hans Christiansen. Was der junge Deutsche hier zu sehen bekommt, übersteigt seine kühnsten Erwartungen. Allein die Boulevards gleichen einer ständig wechselnden Kunstausstellung, denn im Stadtbild ist die Plakatkunst à la Henri de Toulouse-Lautrec allgegenwärtig. Überhaupt erleben die grafischen Künste eine nie zuvor gesehene Blüte, zumal dutzende von Zeitschriften hunderte von Zeichnern und Illustratoren beschäftigen. Von dieser Hausse lässt sich auch der Münchner Verleger Dr. Georg Hirth anstecken. 1896 gründet er die Zeitschrift JUGEND, deren künstlerisches Profil Christiansen in den kommenden Jahren wesentlich prägen wird.
Henri de Toulouse-Lautrec, Divan Japonais
Symbolismus + Japonismus = Jugendstil
Bevor Christiansen 1895 nach Paris aufbricht, durchläuft er eine Ausbildung als Zeichner und Entwerfer kunstgewerblicher Gegenstände in München und Hamburg. Tiefe Eindrücke hinterlassen bei ihm die Bildwelten des Schweizer Symbolisten Arnold Böcklin, dessen Gemälde die Utopie einer mythologisch-arkadischen Welt beschwören. Im Zeitalter der Industrialisierung liefern sie den idealistischen Gegenentwurf zu einer von einseitigem Fortschrittsglauben geprägten Gesellschaftsordnung und verheißen die Erhöhung des Menschen durch die Kunst.
Arnold Böcklin, Triton und Nereide
In Frankreich kommt Christiansen schließlich mit dem Japonismus in Berührung, dessen Motive und Ästhetik in aller Munde sind. Die Entwicklung dieses Kunststils geht auf den Import japanischer Kunstgegenstände im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zurück, wobei Holzschnitte von Hokusai und Hiroshige großen Einfluss haben. Zu ihren größten Bewunderern zählt neben den Impressionisten auch Vincent van Gogh.
Hokusai, Die große Woge von Kanagawa
Wie viele zeitgenössische Künstler erkennt Christiansen das Potential von Symbolismus und Japonismus für die Entwicklung eines neuen eigenständigen Stils. Dieser soll möglichst alle Bereiche des Lebens erfassen und nicht nur einem elitären Kreis, sondern auch der breiten Masse zugänglich sein. Kennzeichnend ist unter anderem die Vorliebe für ornamenthaft aufgefasste Frauengestalten und Fabelwesen, die mit eleganter Linienführung wiedergegeben sind. Ab Mitte der 1890er Jahre tritt dieser Stil – den man in Frankreich Art Nouveau, in England Modern Style und in Deutschland Jugendstil nennt – einen fulminanten Siegeszug an. Illustrierte Zeitschriften wie die JUGEND sind hieran maßgeblich beteiligt.
Ekstatisches Covergirl
Dank der JUGEND wird Christiansens Name bald einem großen Publikum bekannt. Neben Vignetten und Textillustrationen zeichnet er mehrere ihrer Titelseiten, deren wöchentlich variierende Gestaltung das Interesse der Leser wecken soll. Dabei setzt die Zeitschrift vor allem auf plakative Wirkung und auffällige Farbgebung. Für den aus sechs Buchstaben bestehenden Schriftzug müssen jeweils neuartige Lettern in vegetabilen Formen entworfen werden.
Hans Christiansen, Die Woge als Titelseite der JUGEND
Die ein Jahr nach ihrer Entstehung als Titelseite der JUGEND veröffentlichte Zeichnung Die Woge ist ein charakteristisches Beispiel für die sich aus dem Einfluss von Symbolismus und Japonismus speisende Bildsprache Christiansens. Der Künstler versetzt den Betrachter aufs offene Meer, aus dessen ornamenthaft stilisierten Fluten ein schlangenartiges Seeungeheuer auftaucht. Auf seinem Rücken sitzt eine abenteuerlustige Meerjungfrau, die ihren Kopf nach hinten wirft. Ihre ausladende Gebärde lässt keinen Zweifel daran, wie sehr sie den wilden Ritt in der Abendsonne genießt und auch ihr ungleicher Freund scheint seine Freude daran zu haben. Über ihnen erscheint – gleich einem lebensbejahenden Credo – in seetangartigen Schriftzeichen das Wort JUGEND. Gesteigert wird die Phantastik der Szene durch die knallige Farbigkeit im Druck, die Plakate der Flowerpower-Bewegung um ein knappes Jahrhundert vorwegnimmt.
Wie modern muss Christiansens Bildfindung erst zum Zeitpunkt ihrer Entstehung gewirkt haben?!