Wo ist Mona L.?
Kunstwerk der Woche
Henry Bing, Raub der Mona Lisa
Wenn Meisterwerke der Kunstgeschichte spurlos verschwinden, hält die Welt den Atem an. Was aber geschieht, wenn es sich bei dem Diebesgut um das berühmteste Gemälde aller Zeiten handelt? In seiner zweiteiligen Bilderserie Raub der Mona Lisa rekonstruiert der Karikaturist Henry Bing die Umstände eines Kunstskandals von politischer Dimension und kommentiert diesen zugleich auf satirische Weise.
Das perfekte Verbrechen?
Als die französische Öffentlichkeit am 21. August 1911 vom Raub der Mona Lisa aus dem Louvre erfuhr, glaubte man zunächst an einen schlechten Scherz. Es handelte sich jedoch keineswegs um eine sommerliche Zeitungsente, sondern um einen für unmöglich gehaltenen Vorfall, dessen Brisanz durch das Fehlen jeglicher Spur zum Täter zusätzlich verschärft wurde. Was war geschehen?
Leonardo da Vinci, Mona Lisa
Da polizeiliche Ermittlungen ergebnislos blieben, wurden hohe Summen für die Wiederauffindung von Leonardo da Vincis Meisterwerk zur Belohnung ausgesetzt. Nachdem auch dieser Versuch erfolglos blieb, verbreiteten sich bald unterschiedliche Gerüchte über den Täter und sein Motiv. Zunächst wurde vermutet, dass ein Kunststudent das Gemälde entwendet haben sollte. Wenig später war von einem Geisteskranken die Rede, der das geheimnisvolle Lächeln der Mona Lisa nicht ertragen und das Bild deshalb zerstört haben sollte. Auch skrupellose amerikanische Kunstsammler standen unter Verdacht. Die Spekulationen kulminierten schließlich in der Behauptung, dass Frankreichs Erbfeind Deutschland die nationale Ikone entwendet habe, um von außenpolitischen Konflikten abzulenken.
Die verwaiste Wand der Mona Lisa im Louvre
Ein sächsisches Touristenkomplott
Im Land der vermeintlichen Täter nahm man die Anschuldigungen freilich kaum ernst. Selbst der in München lebende französische Karikaturist Henry Bing konnte der Verschwörungstheorie seiner Landsleute nichts abgewinnen. Wenige Wochen nach dem Verschwinden des weltberühmten Gemäldes veröffentlichte die Satirezeitschrift Simplicissimus seine zweiteilige Bildergeschichte Raub der Mona Lisa. In ihr rekonstruiert Bing den vermeintlichen Tathergang, um den Vorwurf gleichzeitig ad absurdum zu führen. Demnach standen keine professionellen Diebe hinter dem Raub, sondern ein biederes Touristenpärchen aus Sachsen, das die italienische Dame als Souvenir an seine Parisreise mit in die Heimat nahm.
Henry Bing, Raub der Mona Lisa – Detailansichten
Im ersten Bild bewundern die beiden Kunstfreunde mit Kennerblick und spitzbübischer Mine das Objekt ihrer Begierde, das ihnen mit augenzwinkerndem Lächeln Mut zuzusprechen scheint. Der sie beobachtende Museumswärter zieht derweil gelassen an seiner Pfeife und ahnt nichts Böses. Im zweiten Bild ist die Tat vollbracht und der Tatvorgang ersichtlich. Die von ihrem Keilrahmen gelöste Mona Lisa wurde unter einem geschickt präparierten Rock aus dem Louvre geschmuggelt und befindet sich nun nicht mehr unter Meisterwerken der Kunstgeschichte, sondern in einem Hotelzimmer einfachster Kategorie. Dort bewundert das verzückte Pärchen den Neuzugang seiner Sammlung mit größter Zufriedenheit. Ungeachtet ihrer abenteuerlichen Entführung lächelt Mona Lisa stoisch. Scheinbar kann sie auch die Aussicht auf eine neue Heimat in Leipzig nicht erschüttern. Dorthin wird das Pärchen alsbald zurückreisen, wie ein Etikett auf der Reisetasche des Herren andeutet.
Mona Lisas Rächer
Ob und gegebenenfalls wie Henry Bings Bildsatire in Frankreich aufgenommen wurde, ist nicht bekannt. Seine humoristische Karikatur hatte jedoch mit den realen Tatvorgängen wenig gemein. Zwei Jahre nach dem Verschwinden der Mona Lisa bot der in Paris lebende italienische Anstreicher Vincenzo Peruggia das Gemälde dem Florentiner Kunsthändler Alfredo Geri an. Ihm gegenüber gestand er, dass er die Mona Lisa in einer Nacht- und Nebelaktion aus dem Louvre geschmuggelt habe, da er es als Patriot nicht länger ertragen konnte, sie außerhalb seiner Heimat zu wissen.
Polizeifoto von Vincenzo Peruggia, 1913
Geri wiederum setzte sich mit den italienischen Behörden in Verbindung und bat Peruggia, das Gemälde von Paris nach Italien zu bringen, um es dort im Original begutachten zu können. Bei ihrer Begegnung wurde der Anstreicher von der italienischen Polizei festgenommen und die Mona Lisa sichergestellt. Nach einer Wanderausstellung durch Italien kehrte sie 1914 an ihren angestammten Platz im Louvre zurück. Spätestens seit diesem Zeitpunkt gilt die Mona Lisa als das berühmteste Gemälde aller Zeiten, vor dem sich Jahr für Jahr Millionen von Touristen aus aller Welt drängen, um einen Blick auf die geheimnisvolle Schönheit zu werfen.
Übergabe der Mona Lisa an den Louvre, 1914